von Natalie Weinmann, M.Des. Irritation ist das Ergebnis eines komplexen Verarbeitungsprozesses in unserem Gehirn: ein für uns „fremder“ Reiz durchbricht das uns Bekannte, Gewohnte, die sogenannte „Norm“. Es entsteht eine Diskrepanz zwischen dem vorliegenden Sachverhalt und dem, was wir erwartet haben. Wir versuchen durch erneutes Wahrnehmen mit allen Sinnen, durch Perspektivwechsel sowie durch ständiges Reflektieren den Reiz einzuordnen. Doch das Fremde lässt sich nun mal nicht in „Schablonen“ des Vertrauten einordnen. Wir sind irritiert.
Lasst uns einmal genauer hinschauen, was in diesem Prozess, der im Bruchteil einer Sekunde ablaufen kann, auf neurobiologischer Ebene passiert:
Mit dem wahrgenommenen Reiz findet eine Orientierungsreaktion, eine Ausrichtung unserer Sinnesorgane auf diesen statt. Daraufhin folgt die Auswertung des Reizes bezüglich der Relevanz durch den Thalamus, der eine Art Filter darstellt. Es wird versucht, ihn als unangenehm oder angenehm zu kategorisieren. Aus evolutionärer Sicht war diese erste Einordnung besonders notwendig, um in einer gefährlichen Situation schnelle, zum Teil lebensnotwendige Entscheidungen treffen zu können. In dem Moment der Kategorisierung findet eine komplexe Verarbeitung des Reizes statt, die bewusstheitsbildenden Netzwerke springen an und es werden Assoziationen mit anderen Stimuli, beispielsweise haptische, akustische oder olfaktorische, in den Prozess integriert. Das Gehirn sucht nach einer „Schablone“, ein bekanntes Muster, in welches es den Reiz einordnen kann. Eine erfolgreiche Einordnung erzeugt ein Gefühl der Sicherheit und Ordnung. Es folgt Entspannung und eine einfache Anwendung von erlerntem Wissen im Umgang mit dem jeweiligen bekannten Ereignis. Wenn das Gehirn jedoch keine geeignete „Schablone“ findet, in die der wahrgenommene Reiz einzusortieren ist, entsteht Irritation. Es besteht demnach eine Diskrepanz zwischen dem neu Wahrgenommenen und dem Bekannten. Nun muss bewertet werden, ob das Ereignis als (i) bedrohlich oder (ii) nicht bedrohlich eingestuft werden kann:
(i) Sollte das Ereignis als bedrohlich wahrgenommen werden, so findet keine weitere Auseinandersetzung oder tiefergehenden kognitiven Verarbeitungsprozesse statt. Die Gefühle Stress und Angst werden erzeugt und es folgt ein Flucht- oder Kampfreflex. Der Mensch gerät in Panik, versucht „das Problem“ – als was es nun sekundenschnell eingestuft wird – „zu lösen“. Daher: es muss aktiv aus der Welt geschafft werden (Kampf), oder es wird gemieden (Flucht).
(ii) Wenn das Ereignis im Kategorisierungsprozess als nichtbedrohlich empfunden wird, beginnt sich das Gehirn im Sinne eines Neugierverhaltens intensiver mit dem Reiz auseinanderzusetzen und die Bedeutung dessen zu ergründen. Es versucht herauszufinden, was der Reiz macht, in welcher Verbindung er zu anderen Dingen steht oder stehen könnte und auf welche Arten man sich ihn zu Nutze machen kann. Der Mensch hat hierbei die Fähigkeit hochgradig abstrakt vorzugehen, was dazu führt, dass neue neuronale Netzwerke aktiviert, neue Gedankengänge ausgelöst und letztendlich neue „Schablonen“ gebildet werden, in die der Reiz einsortiert werden kann. In diesem produktiven, kreativen Prozess der Erschaffung neuer Kategorien, der erfolgreichen Einsortierung des Reizes in diese, sowie das in Gang setzen von neuen Denkprozessen, können neben Neugierde auch weitere Gefühle erzeugt werden, wie zum Beispiel Überraschung, Freude oder auch Spaß.
Je häufiger und schneller diese Prozesse zu einer Einordnung eines Reizes als ungefährlich, und damit zu einer weiteren Verarbeitung und erfolgreichen Bewältigung der Aufgabe führen, desto tiefer verankern sich daran gekoppelte Gefühle, und desto eher werden letztere in ähnlichen Situationen hervorgeholt. Daraus lässt sich schließen, dass ein Gehirn, welches die Konfrontation mit unbekannten Reizen nur selten durchläuft, diese Reize eher als gefährlich einordnet, und demzufolge häufiger mit Stress und Angst reagiert. Ein kreativer Verarbeitungsprozess ist hier von vorneherein ausgeschlossen, der Prozess führt stattdessen in eine Sackgasse, da keine weitere Auseinandersetzung stattfindet. Wohingegen die Verankerung von positiven Gefühlen, durch die wiederholte kreative Bewältigung, immer schneller zu Neugierde, Spaß und einer unerwarteten Verarbeitung des Reizes führen kann.
Positive Erfahrungen mit Irritation haben also das Potential, langfristig Kreativität zu fördern. Wie kann diese wechselseitige Beziehung nun aktiv genutzt werden? In einer komplexen und agilen Welt ist es wenig zukunftsorientiert sich darin zu üben, das Fremde und Unbekannte vorherzusehen, zu verhindern oder zu meiden. Stattdessen sollten wir vielmehr die unvorhersehbaren Ereignisse bewusst aufsuchen und somit die kreative Verarbeitung des Reizes provozieren. Das positive Erleben von Irritation und das Durchlaufen des daran gekoppelten Gedankenprozesses erweckt Neugierde und Interesse, was langfristig Raum für einen kreativen und innovativen Umgang mit neuen Themen – wo auch immer diese liegen werden – schaffen kann.
Lasst uns irritieren.
Quellen:
Fachliche Unterstützung von Dipl.-Psych. Robert Mehl.
Peter Erni, Martin Huwiler, Christophe Marchand, Transfer: Erkennen und Bewirken, 2007
Gerald Hüther, Biologie der Angst: Wie aus Stress Gefühle werden, 13. Auflage, 2018
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